Europatreffen der Tierärzte ohne Grenzen in der AGES Innsbruck im Zeichen der Ernährungssicherung
(11.10.2011) VSF-VertreterInnen aus sieben EU-Ländern, Schweiz und Kanada diskutierten am 5. und 6. Oktober 2011 über tierärztliches Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit und dessen Beitrag zur Armutsbekämpfung
Die Sicherung der Tiergesundheit und somit die Sicherung der Nahrungsgrundlagen ist eine der größten Herausforderungen dieses Jahrhunderts. Gerade Hungerkrisen zeigen die Komplexität und die Volatilität der globalen Lebensmittelversorgung, da die schwächsten Mitglieder in jeder Gesellschaft hart getroffen werden.
VSF VertreterInnen aus Österreich, Deutschland, Italien, Frankreich, Niederlande, Belgien, Portugal sowie Schweiz und Kanada beim Europameeting der Tierärzte ohne Grenzen
Einen Beitrag zur tierärztlichen Nothilfe und Entwicklungszusammenarbeit liefern die Leistungen der Tierärzte ohne Grenzen / Vétérinaires sans frontières (VSF), deren Projekte darauf abzielen, die Lebensbedingungen jener Menschen zu verbessern, deren Leben von der Nutztierhaltung abhängt.
Beim zweitägigen Europa Meeting der Tierärzte ohne Grenzen am 6./7. Oktober 2011 bei der AGES in Innsbruck diskutierten VSF-VertreterInnen aus Österreich, Deutschland, Italien, Frankreich, Niederlande, Belgien, Portugal sowie Schweiz und Kanada über tierärztliches Engagement im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit und dessen Beitrag zur Armutsbekämpfung.
Dr. Ulrich Herzog, Chief Veterinary Officer (CVO)
Mit dabei waren auch die höchsten Verantwortlichen für die Tiergesundheit in Österreich und Tirol, Dr. Ulrich Herzog, Chief Veterinary Officer (CVO) im Bundesministerium für Gesundheit, und Landesveterinärdirektor Dr. Josef Kössler sowie Hofrat Dr. Fritz Staudigl von der Tiroler Landesregierung, u.a. verantwortlich für die Entwicklungshilfegelder des Landes Tirol.
CVO Ulrich Herzog erläuterte die Zusammenhänge von Bevölkerungswachstum, steigendem Fleischkonsum und den seit 2005 volatilen Preisentwicklungen am Lebensmittelsektor mit der Verbreitung von Tierkrankheiten am Beispiel der Maul- und Klauenseuche.
Erin Fraser, VSF Kanada
Eine globale Strategie zur Bekämpfung der MKS hat direkte Auswirkung auf die regionale Versorgung der Bevölkerung mit tierischen Lebensmitteln, die wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Strukturen und somit auch auf politische Entwicklungen, so Herzog in Bezug auf den Arabischen Frühling.
Bis 2030 müsse die globale Lebensmittelproduktion um 50 Prozent steigen um den Bedarf der Weltbevölkerung zu decken. Laut OECD-FAO-Ausblick werde allein der Fleischkonsum im asiatischen Raum bis 2020 um bis zu 60 Prozent zunehmen.
Der Großteil der Produktion zur Deckung dieses Bedarfs habe in den betroffenen Ländern zu erfolgen, mit all den damit verbundenen offenen Fragen betreffend der ausreichenden Verfügbarkeit von Land, Wasser und damit verbundenen Futtermitteln.
Hervé Petit, VSF Frankreich
Die Verbindung aus der Abhängigkeit von Fleischimporten in Teilen Europas und den daraus resultierenden globalen Tierbewegungen ergibt die Notwendigkeit einer weltweiten MKS-Bekämpfungsstrategie auf internationaler Ebene.
MKS und anderer Tierseuchen würden nicht Halt vor politischen Grenzen machen, hätten aber massive negative Auswirkungen auf Tiergesundheit und Produktivität der betroffenen Tierhaltungen, die einen wesentliche Bestandteil der landwirtschaftlich geprägten Wirtschaftssysteme in vielen Entwicklungsländern darstellen.
Gerade bezüglicher professioneller Hilfe bei epidemiologischen Fragestellungen, beim Informationsaustausch zu Impfung, etc. können die Tierärzte ohne Grenzen - aufbauend auf einer globalen Strategie - lokal einen wichtigen Beitrag leisten.
Vincent Briac, Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung (IFRC) und Gründungsmitglied des VSF Europa
Die VSF-ExpertInnen bekamen dann vom Bereichsleiter Landwirtschaft in der AGES eine Übersicht über die Herausforderungen der Ernährungssicherung und Ernährungssicherheit aus landwirtschaftlicher Sicht.
Ebenso wie die Ausbreitung von Tierseuchen hätten Pflanzenkrankheiten direkten Einfluss auf die Sicherung der Ernährung. Allein die Auswirkungen der Getreidepreise auf die Kosten der Tieraufzucht zeigen die enge Verbundenheit von Landwirtschaft und Tierzucht und somit zur Sicherung der Nahrungsgrundlagen der Bevölkerung.
Klimawandel, Bevölkerungswachstum und Änderung der Ernährungsgewohnheiten sind angesichts einer Milliarde hungernder Menschen die größte Herausforderung des 21.Jahrhunderts, so DI Leopold Girsch.
Chiara Cannizzo, Koordinatorin des VSF Europa
Nicht umsonst stünde der heurige Welternährungstag am 16. Oktober unter dem Motto Food prices - from crisis to stability. Anders als Österreich seien viele Länder von Ernährungs-Souveränität weit entfernt.
Das Problem der Verfügbarkeit von landwirtschaftlichen Rohstoffen zeige sich anhand einer einfache Zahl aus dem UN-Bericht Nahrungsmittelversorgung im 21. Jahrhundert: Bei nahezu gleichbleibender globaler Ackerfläche seit dem Jahr 1950 und einer bis 2050 beinahe Vervierfachung der Weltbevölkerung sinkt der Anteil der pro Kopf zur Verfügung stehenden Ackerfläche von 5.100 m2 auf 1.600 m2.
Allein Österreich verliere pro Tag 30 Hektar Ackerfläche, die Nahrungsgrundlage für 100 Menschen. Daher spiele eine Landwirtschaft mit standortangepassten Arten, Sorten, hochwertigem Saatgut, der Förderung von Biodiversität und von gesundem Boden, einer optimierten Pflanzenernährung, dem Pflanzenschutz, dem Bienenschutz und grundsätzlich dem Einsatz umweltschonender Technologien eine Schlüsselrolle bei der nachhaltigen Versorgung mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen.
Projektvorstellungen der einzelnen nationalen VSF-Organisationen
Karl Schöpf (AGES) und Dagmar Schoder (VSF Österreich) mit VSF Europa-Präsident Alessandro Broglia (m.)
VSF-Präsident Alessandro Broglia betonte die Leistungen der nationalen VSF-Organisationen: Mit einem Volumen von 20 Millionen Euro finanziere VSF Europa heute bereits 100 Projekte in über 40 Ländern.
Eine zentrale Rolle spiele dabei aber auch die Awareness, die Aufmerksamkeitsbildung innerhalb der Bevölkerung der entwickelten europäischen Länder für die Bedeutung der Leistungen der Entwicklungszusammenarbeit, wie auch Chiara Cannizzo, Koordinatorin des VSF Europa betonte.
Kurz vor dem Weltkongress der Veterinäre in Südafrika skizzierte Broglia die künftigen Herausforderungen: Der Mensch müsse sich als Teil eines gesamtheitlichen Gesundheitssystems verstehen.
Nur wenn Tiergesundheit, öffentliche Gesundheit und die Gesundheit der Umwelt zu EINER Gesundheit / One Health würden, nur wenn sich diese mit den Leistungen der Landwirtschaft, Wirtschaft, Soziologie, Geographie und Anthropologie vereinen, kann der Kampf gegen den Hunger gewonnen werden. Die weltweite Produktion von Bio-Treibstoffen statt Nahrungsmitteln stellt zur Erreichung dieses Zieles ein großes Problem dar.
Elisabeth Hartwig, VSF Deutschland
Bei der Vorstellung konkreter Projekte der nationalen VSF-Organisationen präsentierten die Expertinnen aus Österreich, Deutschland und Frankreich ihre Erfahrungen mit der Entwicklungshilfe in den betroffenen Ländern. Dagmar Schoder, Präsidentin des VSF Österreich, strich anhand des indigenen Stammes der Masaai in Tansania die Zusammenarbeit und Einbindung der vorhandenen, gesellschaftlichen Strukturen hervor.
Ansonsten stifte eine falsch verstandene, gut gemeinte Entwicklungshilfe mehr Schaden, denn Nutzen, so Schoder.
Auch die Soziologin Elisabeth Hartwig von VSF Deutschland forcierte bei ihrem Projekt im Süd-Sudan nach 30 Jahren Bürgerkrieg die Zusammenarbeit mit den lokalen politischen und traditionell Stammesorientierten Gesellschaftsstrukturen und vor allem den Frauen. Maßnahmen der Öffentlichen und Tiergesundheit wurden fächerübergreifend auch mit anderen NGOs kombiniert.
So konnte eine Mittelfinanzierung von insgesamt einem Drittel der Gesamtsumme durch lokale Stammes- und politisch Verantwortliche erzielt und ein Friendsprozess zwischen verfeindeten Stämmen eingeleitet werden.
Landesveterinärdirektor Tirol, Josef Kössler im Publikum
Hervé Petit von VSF Frankreich zeigte an Hand eines Tiergesundheits-Projekts für Hühner, Schweine und Rinder in Kambodscha, wie mit einfachen Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung für die Tiergesundheit in der ländlichen Bevölkerung viel erreicht werden kann.
Der Schweizer Vincent Briac von der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung (IFRC) und Gründungsmitglied des VSF Europa hinterfragte aktuelle und künftigen Zielsetzungen jeglicher internationaler Hilfe auf ihre unkoordinierten Schwerpunktsetzungen. 75 Prozent der übertragbaren Krankheiten weltweit sind auf Zoonosen, also vom Tier auf den Menschen übertragbare Krankheiten, zurückzuführen. Das unterstreiche die Rolle der Tierärzte ohne Grenzen, so Briac.
Gleichzeitig dürfe man nicht übersehen, dass Fettleibigkeit zu einem größeren Problem für die Gesundheit der Weltbevölkerung geworden ist, als die Unterernährung. Und in der Entwicklungszusammenarbeit mangle es nicht an finanziellen Möglichkeiten oder menschlichen Ressourcen, der Schlüssel zum Erfolg liegt abervielmehr in der fächerübergreifenden, gemeinsamen Koordination aller Maßnahmen. Heute gebe es weltweit, jedes Jahr, überall Katastrophen - ein Großteil davon seien Natur- und Wetter-bedingt.
Leopold Girsch, Bereichsleiter Landwirtschaft AGES
Seit den 1980ern hätten sich diese um das sogar um das Dreifache erhöht. Daher ist eine nachhaltige Langzeitentwicklung der einzelnen Projekte der einzelnen Hilfsorganisationen in den Regionen zur größten Herausforderung geworden, hinterfragte Briac manche Schwerpunktsetzung.
Hofrat Staudigl vom Land Tirol und Franz Hainzl von der Diözese Innsbruck, die mit der Projektausführung betraut ist, bedankten sich bei den anwesenden TierärztInnen des VSF für deren weltweiten Einsatz zur Förderung der Tiergesundheit und damit zur Stärkung der ländlichen Bevölkerung in benachteiligten Regionen. Am Abend waren dann die Vertreter aller VSF-Organisationen auf Einladung des Tiroler Landeshauptmannes Günther Platter zu einem Empfang ins Landhaus geladen.
Das Land Tirol investiert über die EZA-Projektförderungen der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino im Rahmen des Global Marshall Plans in der Region Uganda/Tansania von 2010 bis 2013 rund eine Million Euro unter anderem in Ernährungssicherung, Einkommensverbesserung und Förderung der Tiergesundheit. Ein wichtiger Bestandteil bildet dabei auch die Bewusstseinsbildung in allen Tiroler Gemeinden.