PaläontologInnen rekonstruieren und erforschen mit Hilfe von Computertomographie Sinnesorgane von Urzeit-Reptilen

(28.05.2021) Eine Studie liefert neue Erkenntnisse zur Bedeutung von Form und Größe der Gleichgewichtsorgane im Innenohr der Archosaurier für die Biologie der Tiere.

Zu der Reptilien-Gruppe gehören unter anderem die Flugsaurier, Krokodile, Dinosaurier und ihre Nachfahren – die Vögel.

In einer wissenschaftlichen Arbeit hat ein internationales ForscherInnen-Team, unter Beteiligung der Paläontologin Dr. Gabriela Sobral vom Naturkundemuseum Stuttgart, die Struktur der Gleichgewichtsorgane des Innenohrs anhand von Fossilien der „Archosauria“ („Herrschende Echsen“) genannten Reptiliengruppe untersucht.


Schädel eines Vogels, eines Kaimans, eines Dinosauriers und eines Lagerpetiden (naher Verwandter der Flugsaurier) sowie nicht maßstabsgetreu rekonstruierte Bogengänge.

Das Team analysierte Formen und Größen der sogenannten Bogengänge im Schädelbereich von lebenden und ausgestorbenen Archosauriern mit unterschiedlichen Fortbewegungsgewohnheiten, um mehr über die Biologie und Ökologie der Tiere herauszufinden. Bogengänge dienen als eine Art Kreiselstabilisator, der unserem Gehirn hilft, zu erkennen, wo oben und wo unten ist.

Das hält unseren Körper im Gleichgewicht. Die Bogengänge sind Teil eines Sinnessystems, das hilft, die Bewegungen der Augen und des Halses zu koordinieren. Sie helfen auch dabei, das visuelle Bild auf unserer Netzhaut zu stabilisieren.

Die WissenschaftlerInnen konnten in Ihrer Arbeit einerseits zuvor angenommene Wechselbeziehungen zwischen der Form und Größe der Bogengänge und der Lebensweise der Tiere, wie z.B. der Möglichkeit, zu fliegen, nicht bestätigen.

Anderseits zeigen die Unterschiede in den Merkmalen der sensorischen Systeme, dass sich die heute lebenden Vertreter der Archosaurier, Krokodile und Vögel, evolutionsgeschichtlich aus einer sehr frühen Auffächerung der Tiergruppe in viele spezialisierte Arten entwickelt haben.

So konnten die ForscherInnen zeigen, dass Unterschiede der Sinnesorgane im Innenohr bereits zwischen den ältesten Verwandten der Vögel und der Krokodile vor mehr als 240 Millionen Jahren bestanden.

Die Ergebnisse der Studie wurden in der Zeitschrift „Current Biology“ publiziert. An der Forschungsarbeit haben WissenschaftlerInnen von der Unitversität São Paulo, der Oxford University, der University of the Witwatersrand in Südafrika und weiteren Instituten und Universitäten in Brasilien, Argentinien, in Großbritannien, der Schweiz, Deutschland und in den USA mitgewirkt

Die Archosaurier erreichten im Laufe der Erdgeschichte eine unglaubliche ökologische Vielfalt und eroberten Lebensräume in der Luft, an Land und im Wasser. Die damit verbundene entstandene Vielfalt der Fortbewegung ist durch die Untersuchung der Anatomie der verschieden Arten relativ gut erforscht.

„Die Veränderungen in den sensorischen Systemen der Tiere, die unter anderem die Fortbewegung erleichtern, sind bisher kaum vergleichend analysiert worden. Durch CT-Scans von Schädeln der Fossilien konnten wir die Bogengänge vieler Urzeitreptilien untersuchen und rekonstruieren. Für die Analyse wurden digitale 3D-Modelle verwendet. Wir haben nicht erwartet, eine so große Vielfalt im Innenohr der frühen Mitglieder der Archosauriergruppe zu finden“, so Dr. Gabriela Sobral vom Naturkundemuseum in Stuttgart.

Die reiche Evolutionsgeschichte der Archosaurier wird durch zahlreiche Fossilien, die sich in den naturkundlichen Sammlungen der ganzen Welt befinden, dokumentiert. Darunter sind auch einige berühmte ausgestorbene Tiergruppen wie die (Nicht-Vogel-)Dinosaurier, die Flugsaurier und viele verschiedene Arten von Krokodilverwandten, unter ihnen vollständig terrestrische und vollständig marine Tiere.

Zu den lebenden Nachfahren der Archosaurier gehören die Vögel und Krokodile. Die ältesten von den WissenschaftlerInnen untersuchten Fossilien waren 250 Millionen Jahre alt.

Bisher wurde eine Wechselbeziehung zwischen der Form und Größe der Bogengänge und der Art und Weise, wie sich die verschiedenen Arten fortbewegen, vermutet. Daher wurden die Sinneskanäle auch in vielen paläontologischen Studien als wichtiges Indiz verwendet, um auf die Lebensgewohnheiten ausgestorbener Tiere zu schließen.

Diese Korrelation konnte das ForscherInnen-Team in seiner Studie leider nicht belegen. Die PaläontologInnen vermuten nun, dass die Unterschiede auf Spezialisierungen, wie extrem gutes Sehvermögen, und die Schädelanatomie zurückzuführen sind.

Die großen halbkreisförmigen Sinneskanäle beispielsweise, die bei Vögeln zu sehen sind, wurden historisch als eine Anpassung für den Flug interpretiert. Pterosaurier, ausgestorbene fliegende Reptilien, haben jedoch Bogengänge, die kleiner sind als die von vielen anderen nicht fliegenden Archosaurier-Arten.

Dies ist ein Hinweis darauf, dass große Bogengänge für das Fliegen nicht erforderlich sind. Interessanterweise sind die größten Sinneskanäle, die die ForscherInnen gefunden haben, bei einigen der Nicht-Vogel-Dinosaurier und bei auf das Sehen spezialisierten Vögeln vorhanden. Daher ist es wahrscheinlich, dass größere Bogengänge für eine höhere Sehschärfe wichtig sind, was den Tieren zum Beispiel bei der Beutejagd hilft.

„Das Fehlen einer Verbindung zwischen der Innenohrform und der Fortbewegungsart der Tiere, die wir zunächst angenommen haben, ist bedauerlich für uns PaläontologInnen, die wir versuchen, die Biologie ausgestorbener Tiere zu beurteilen.

Die Verbindung der Form und Größe der Bogengänge mit der Sehschärfe der Archosaurier, kann uns dennoch sehr interessante Einblicke in deren Lebensweise bieten. Es war sehr aufregend, Teil dieses Projekts zu sein“, so Dr. Gabriela Sobral.

Für die Studie, an der zahlreiche WissenschaftlerInnen beteiligt waren, wurden Untersuchungsdaten von Fossilien aus vielen Teilen der Welt zusammengeführt und ausgewertet. Darunter auch Objekte der paläontologischen Sammlung des Naturkundemuseums Stuttgart, wie der Schädel des 210 Millionen Jahre alten Dinosauriers Plateosaurus. Die weitreichende Kooperation erlaubte den ForscherInnen, einen sehr großen Datensatz für ihre Untersuchungen der Morphologie der Bogengänge aufzubauen.


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