Erstbeschreibung neuer Krakenart ohne Skalpell

(23.04.2021) Ein Evolutionsbiologe der Universität Bonn holte im Nordpazifik aus über 4.000 Meter Tiefe eine neue Oktopusspezies ans Tageslicht. Die aufsehenerregende Entdeckung schlug vor einigen Jahren mediale Wellen.

Nun haben Bonner Wissenschaftler die Erstbeschreibung veröffentlicht und das Tier auf den Namen “Kaiserdumbo” (Grimpoteuthis imperator) getauft. Ebenso ungewöhnlich wie der Organismus ist die Vorgehensweise der Forscher: Für die Artbeschreibung sezierten sie das seltene Lebewesen nicht, sondern nutzten stattdessen zerstörungsfreie bildgebende Verfahren. Die Ergebnisse sind nun im angesehenen Fachjournal “BMC Biology” veröffentlicht.


Der glockenförmige Schirm des Kaiserdumbos (Grimpoteuthis imperator) reicht nur knapp über die Hälfte der Arme. Dies ist ein Indiz für eine Lebensweise nah am Meeresboden.

Im Sommer 2016 war Dr. Alexander Ziegler vom Institut für Evolutionsbiologie und Ökologie der Universität Bonn mehrere Monate mit dem Forschungsschiff SONNE im Nordpazifik unterwegs. Rund 150 Mal ließ die Crew den stählernen Fangkorb bis zum Meeresgrund hinab, um von dort Gestein, Sedimente und Lebewesen empor zu fördern. Für mediales Aufsehen sorgte vor allem ein Organismus: ein Dumbooktopus.

Das rund 30 Zentimeter große Tier stammte aus über 4.000 Meter Wassertiefe. Allerdings konnte der Oktopus nicht lebend geborgen werden: “An die Umweltbedingungen der Meeresoberfläche ist der Tiefseeorganismus nicht angepasst”, erklärt Ziegler.

Bei den Dumbooktopussen handelt es sich um eine Gruppe von in der Tiefsee lebenden Tintenfischen, die 45 Arten umfasst. Der Name rührt von dem fliegenden Elefanten aus dem gleichnamigen Walt-Disney-Film her, der wegen seiner ungewöhnlich großen Ohren gehänselt wird – die links und rechts des Kopfes liegenden Flossen der Dumbooktopusse ähneln diesen Elefantenohren. Der Dumbo auf dem Forschungsschiff SONNE wich aber deutlich von den bekannten Krakenarten ab.

“Mir war sofort klar, dass wir etwas ganz Besonderes gefangen hatten”, berichtet der Biologe. Deshalb hielt Ziegler das ungewöhnliche Tier sofort in Bildern fest, nahm eine kleine Gewebeprobe für DNA-Analysen und konservierte den Oktopus dann in Formalin.

Mit seiner ehemaligen Masterstudentin Christina Sagorny veröffentlichte Ziegler nun eine Erstbeschreibung der bislang unbekannten Spezies. Ebenso ungewöhnlich wie der Krake war die verwendete Methodik. Normalerweise sezieren Zoologen die Tiere, da für die Artbeschreibung auch die inneren Organe wichtig sind. “Da der Oktopus sehr wertvoll ist, suchten wir aber nach einem zerstörungsfreien Weg”, berichtet der Wissenschaftler.

Hochfeld-MRT statt Skalpell

Der Kopffüßler mit den acht Armen landete deshalb nicht unter dem Skalpell, sondern im Hochfeld-Magnetresonanztomografen des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn.

Mit diesem Gerät werden routinemäßig die Gehirne von Probanden aufgenommen. Dr. Eberhard D. Pracht vom DZNE erklärte sich jedoch dankenswerterweise bereit, den Dumbooktopus hochauflösend in 3D zu scannen. Christina Sagorny untersuchte dann im Rahmen ihrer Masterarbeit, ob sich mit dem Hochfeld-MRT die inneren Organe und weitere Weichteile genauso gut darstellen lassen wie mit der herkömmlichen Sezierung. “Die Qualität ist sogar noch besser”, sagt Ziegler.

Eine der wenigen Ausnahmen: Der Schnabel und die Raspelzunge (Radula) des Kopffüßlers bestehen aus hartem Chitin, dass sich im MRT nicht gut abbilden lässt. Deshalb zogen die Biologen noch den Mikro-Computertomografen der Paläontologen der Universität Bonn hinzu. Schnabel und Radula erschienen darin gestochen scharf in 3D. “Zur Erstbeschreibung von Oktopussen gehören diese Hartteilstrukturen zwingend dazu”, sagt Ziegler.

Für die Rekonstruktion der Verwandtschaftsverhältnisse entschlüsselten die Forscher auch noch das Erbgut des Tieres. Ziegler: “Die DNA zeigte zweifelsfrei, dass es sich um eine Spezies der Gattung Grimpoteuthis handelt.”

Wie die Untersuchung der Reproduktionsorgane ergab, handelt es sich bei dem Dumbooktopus um ein erwachsenes männliches Tier. Im Vergleich zu anderen Arten dieser Gattung verfügt er über einige besondere Merkmale.

So waren im Schnitt 71 Saugnäpfe pro Arm feststellbar, die das Tier zum Beutefang braucht und welche die Körpergröße widerspiegeln. Auch die Länge der Zirren – kleine Fortsätze auf den Armen, mit denen die Tiefseetiere vermutlich ihre Beute wahrnehmen – weicht von bereits bekannten Arten ab.

Der zwischen den Armen gespannte Schirm, mit dem der Dumbo langsam im Wasser nach unten schwebt und dabei Würmer und Krebse wie in einer Glocke einfängt, reicht zudem vom Mund aus gesehen nur knapp über die Hälfte der Arme.

“Bei Dumbooktopusarten, die vor allem frei im Wasser schweben, ist der Schirm deutlich länger”, sagt Ziegler. Das deute auf eine Lebensweise der neuen Spezies nah am Meeresboden hin, weil der Schirm sonst bei Bewegungen am Grund hinderlich wäre.

Als erstbeschreibende Wissenschaftler hatten Sagorny und Ziegler das Privileg, der neuen Art einen Namen zu geben: Sie entschieden sich für Grimpoteuthis imperator – oder auf Deutsch “Kaiserdumbo”. Der Hintergrund: Das Tier wurde nicht weit entfernt von Japan in einem untermeerischen Gebirgszug entdeckt, dessen Gipfel nach japanischen Kaisern benannt sind.

Digitale Kopie des Organismus

Durch die Kombination der zerstörungsfreien Methoden entstand eine gestochen scharfe digitale Kopie des Tieres. Sie kann durch alle Interessierten von der Onlinedatenbank „MorphoBank“ für weitere Untersuchungen oder Lernzwecke heruntergeladen werden.

Der konservierte Oktopus selbst wird im Archiv des Berliner Museums für Naturkunde aufbewahrt. “Dort kann er dann auch noch in 100 Jahren analysiert werden, wenn es zum Beispiel noch modernere Untersuchungsmethoden oder neue Fragestellungen gibt”, erläutert Ziegler. “Unser zerstörungsfreier Ansatz könnte vor allem für seltene und wertvolle Tiere Schule machen”, so der Bonner Evolutionsbiologe.

Publikation

Alexander Ziegler, Christina Sagorny: Holistic description of new deep sea megafauna (Cephalopoda: Cirrata) using a minimally invasive approach, BMC Biology, DOI: https://doi.org/10.1186/s12915-021-01000-9



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