Rückgang der Bestände von Süßwassertieren um über 80 Prozent

(03.12.2021) Forschende aus 90 Wissenschaftseinrichtungen weltweit stellen fest: Die Erforschung und der Schutz der Süßwasser-Biodiversität bleiben weit hinter denen im terrestrischen und marinen Bereich zurück.

Sie haben in der Fachzeitschrift Ecology Letters eine Forschungsagenda mit 15 Prioritäten veröffentlicht, mit denen es gelingen soll, die biologische Vielfalt in Seen, Flüssen und Feuchtgebieten besser zu erforschen und zu schützen.

Das ist dringend nötig, denn der Artenverlust schreitet in Binnengewässern schneller voran als an Land und im Meer.

„Der Biodiversitätsverlust im Süßwasser ist eine weltweite Krise, die buchstäblich unter der Wasseroberfläche verborgen ist“, stellt die Professorin Sonja Jähnig vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und der Humboldt-Universität zu Berlin fest.


Forschende aus 90 internationalen Wissenschaftseinrichtungen setzen sich für eine bessere Erforschung und den Schutz der biologischen Vielfalt in Binnengewässern ein

Die Biodiversitätsforscherin hat die Agenda zur Priorisierung der Forschungsthemen und Schutzmaßnahmen der Süßwasser-Biodiversität initiiert und zusammen mit 95 Forschenden aus 38 Ländern auf den Weg gebracht.

Die biologische Vielfalt im Süßwasser umfasst die Gene, Populationen, Arten, Gemeinschaften und Ökosysteme aller Binnengewässer. Sie erbringt wesentliche Leistungen, die als Lebensgrundlage für das Wohlergehen der Menschen von großer Bedeutung sind.

Aller Wichtigkeit zum Trotz: „Gegenwärtig nimmt diese biologische Vielfalt in einem noch nie dagewesenen Ausmaß ab. Zahlen belegen das sehr eindrücklich“, sagt Sonja Jähnig.

Der jüngste Living Planet Report dokumentiert für 3.741 untersuchte Populationen, die 944 Süßwasserwirbeltierarten repräsentieren, einen durchschnittlichen Rückgang der Bestände um 84 Prozent – innerhalb von 50 Jahren. Dies ist der stärkste Rückgang in den drei großen Bereichen Land, Meere und Süßwasser.

„Trotz des anhaltenden, beispiellosen Rückgangs schaffen es internationale und zwischenstaatliche wissenschaftlich-politische Plattformen, Förderorganisationen und große gemeinnützige Initiativen nach wie vor nicht, der Süßwasser-Biodiversität die ihr gebührende Priorität einzuräumen“, kritisiert auch Dr. Alain Maasri, Erstautor der Studie vom IGB.

Binnengewässer bei der Umweltförderung deutlich unterrepräsentiert:

So zeigt ein aktueller Bericht (Moralis, D. 2021. Environmental funding by European foundations, volume 5 ed. Centre, EF. European Foundation Centre) über die Umweltfinanzierung durch 127 europäische Stiftungen, dass auf Binnengewässer nur 1,75 Prozent der insgesamt 745 Millionen Euro, die 2018 für Umweltarbeit bewilligt wurden, entfallen und dass unter den 13 thematischen Kategorien, die zur Bewertung der Fördermittelverteilung herangezogen wurden,

Binnengewässer an vorletzter Stelle stehen. Oftmals werden Binnengewässer auch bei den Land-Ökosystemen mitgeführt - und dann in Finanzierungsplänen nicht ausreichend berücksichtigt.

Neue Agenda soll Biodiversitätsforschung und Umweltpolitik voranbringen:

„Die Agenda soll einen Impuls für ein stärkeres globales Engagement für die Erforschung und den Schutz der biologischen Vielfalt von Süßwasser setzen; konkrete Maßnahmen müssen jedoch immer auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene entwickelt werden“, betont Sonja Jähnig.

Die Autorinnen und Autoren der Agenda identifizieren 15 Prioritäten in den Bereichen Dateninfrastruktur, Monitoring, Ökologie, Management und Sozioökologie, anhand derer die internationale Biodiversitätsforschung im Gewässerbereich zielgerichtet entwickelt werden sollte.

Und die Autor*innen haben drei großen Herausforderungen – Wissenslücken, Kommunikationsschwierigkeiten und mangelhafte politische Umsetzung – mit diesen 15 Prioritäten in Zusammenhang gesetzt.

Wissenslücken schließen, besser kommunizieren und politischen Mut zeigen:

„Es geht nicht darum, mit dem Finger auf politische Entscheider*innen oder andere Akteure zu zeigen. Wir alle – auch wir Forschenden – sind in der Pflicht, Prioritäten zu setzen und besser zusammenzuarbeiten“, sagt Alain Maasri.

Große Wissenslücken und einen ungleichen Zugang zu Informationen gibt es im Bereich der Ökologie, also beispielsweise über die Wechselwirkungen zwischen Organismen und der Umwelt.

Auch das Monitoring könnte verbessert werden: mithilfe von automatisierten Bild- und Videoanalysen, künstlicher Intelligenz, Fernerkundungstechnologien oder durch bürgerwissenschaftliches Engagement. Andere Disziplinen sollten ebenfalls einbezogen werden.

Kommunikationsschwierigkeiten bestehen oftmals zwischen Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen, Manager*innen und politischen Entscheidungsträger*innen; dies betrifft z.B. die Mobilisierung und Bereitstellung vorhandener Daten.

Dies sollte mit der Digitalisierung von Daten aus regionalen und nationalen Überwachungsbehörden, Museumssammlungen und Forschungseinrichtungen einhergehen.

Mehr politischen Rückenwind wünschen sich die Autor*innen bei Zielkonflikten zwischen ökologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen durch die Einbeziehung von lokalen Gemeinschaften und Fachleuten. Dazu gehört auch, traditionelles und indigenes ökologisches Wissen einzubeziehen.

„Allen voran sollten Seen, Flüsse, Teiche und Feuchtgebiete in Bewirtschaftungs- und Renaturierungsprogrammen ausdrücklich als wichtige, eigenständige Lebensräume anerkannt werden“, resümiert Sonja Jähnig.


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