Das Gen, dem wir unser großes Gehirn verdanken

(13.09.2022) Hirnorganoide liefern Einblicke in die Evolution des menschlichen Gehirns

ARHGAP11B – diesen komplexen Namen trägt ein Gen, das nur beim Menschen vorkommt und das eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung des Neocortex spielt. Der Neocortex ist der Teil des Gehirns, dem wir unsere hohen geistigen Fähigkeiten verdanken.

Welche Bedeutung ARHGAP11B bei der Neocortex-Entwicklung im Verlauf der menschlichen Evolution hatte, hat ein Team aus Forscher*innen vom Deutschen Primatenzentrum (DPZ) – Leibniz-Institut für Primatenforschung in Göttingen, vom Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden und vom Hector Institut für Translationale Hirnforschung (HITBR) in Mannheim untersucht.


Dr. Michael Heide leitet die Nachwuchsgruppe Gehirnentwicklung und -evolution am Deutschen Primatenzentrum

Dazu hat das Team erstmals ein Gen, das nur im Menschen existiert, in im Labor gezüchtete Hirnorganoide unserer nächsten lebenden Verwandten, den Schimpansen, eingebracht. Das ARHGAP11B-Gen führte im Schimpansen-Hirnorganoid zu einer Vermehrung der für Hirnwachstum relevanten Hirnstammzellen und zu einem Anstieg von jenen Nervenzellen, die eine entscheidende Rolle für die außergewöhnlichen geistigen Fähigkeiten des Menschen spielen.

Wurde hingegen das ARHGAP11B-Gen in menschlichen Hirnorganoiden ausgeschaltet, so sank die Menge dieser Hirnstammzellen auf das Niveau eines Schimpansen. So konnte das Forscher*innenteam zeigen, dass das Gen ARGHAP11B bei der Evolution des Gehirns von unseren Vorfahren zum heutigen Menschen eine entscheidende Rolle spielte.

Tierexperimentelle Studien an Menschenaffen sind in Europa aus ethischen Gründen seit langem verboten. Für die hier verfolgte Fragestellung sind sogenannte Organoide, also wenige Millimeter große, dreidimensionale Zellstrukturen, die im Labor gezüchtet werden, eine Alternative zum Tierversuch. Diese Organoide können aus sogenannten pluripotenten Stammzellen hergestellt werden, die sich dann in bestimmte Zelltypen, also zum Beispiel in Nervenzellen, differenzieren.

Auf diese Weise konnte das Forscher*innenteam sowohl Schimpansen-Hirnorganoide als auch menschliche Hirnorganoide herstellen. „Diese Hirnorganoide haben uns erlaubt, eine zentrale ARHGAP11B betreffende Frage zu untersuchen“, sagt Wieland Huttner vom MPI-CBG, einer der drei federführenden Autoren der Studie.

„In einer früheren Studie konnten wir zeigen, dass ARHGAP11B ein Primatengehirn vergrößern kann. Unklar war bislang aber, ob ARHGAP11B eine Haupt- oder nur eine Nebenrolle bei der evolutionären Vergrößerung des menschlichen Neocortex hatte“, sagt Wieland Huttner.

Um das zu klären, wurde das ARGHAP11B-Gen zunächst in hirnventrikelähnliche Strukturen von Schimpansen-Organoiden eingebracht. Würde das ARGHAP11B-Gen dazu führen, dass sich im Schimpansen-Gehirn jene Hirnstammzellen vermehren, die für die Vergrößerung des Neocortex notwendig sind?

„Unseres Studie zeigt, dass das Gen in Schimpansen-Organoiden für eine Vermehrung der relevanten Hirnstammzellen und für einen Anstieg an jenen Nervenzellen sorgt, die eine entscheidende Rolle für die außergewöhnlichen geistigen Fähigkeiten des Menschen spielen“, sagt Michael Heide, federführender Hauptautor der Studie, Leiter der Nachwuchsgruppe Gehirnentwicklung und -evolution am DPZ und Mitarbeiter am MPI-CBG.

Wurde das ARGHAP11B-Gen in menschlichen Hirnorganoiden ausgeschaltet oder die Funktion des ARHGAP11B-Proteins gehemmt, so sank die Menge dieser Hirnstammzellen auf das Niveau eines Schimpansen. „Wir konnten damit zeigen, dass ARHGAP11B eine entscheidende Rolle spielt bei der Neocortex-Entwicklung im Verlauf der menschlichen Evolution“, sagt Michael Heide.

Dem fügt Julia Ladewig vom HITBR, die dritte im Bunde der federführenden Autor*innen, hinzu: „In Anbetracht dieser wichtigen Rolle von ARHGAP11B ist es darüberhinaus denkbar, dass bestimmte Fehlentwicklungen des Neocortex möglicherweise durch Mutationen in diesem Gen verursacht werden.“

Ppublikation

Fischer J, Fernandez Ortuno E, Marsoner F, Artioli A, Peters J, Namba T, Eugster Oegema C, Huttner WB, Ladewig J, Heide M (2022): Human-specific ARHGAP11B ensures human-like basal progenitor levels in hominid cerebral organoids. EMBO reports, doi: 10.15252/embr.202254728


Weitere Meldungen

Weißbüschelaffen am Deutschen Primatenzentrum; Bildquelle: Manfred Eberle/DPZ

Eine gentechnisch unterstützte Reise ins Primatengehirn

Die Leibniz-Gemeinschaft fördert das Projekt PRIMADIS mit einer Million Euro
Weiterlesen

Elektronenmikroskopische Darstellung einer erregenden Synapse und Schema des Proteinnetzwerks zur Verankerung der AMPA-Rezeptoren in der Zellmembran.; Bildquelle: Bernd Fakler/Universität Freiburg

Noelin-Proteine zentral für Lernfähigkeit von Säugetiergehirnen

Deutsch-amerikanisches Forschungsteam um Freiburger Physiologen zeigt die fundamentale Bedeutung der Noelin-Proteine für die Plastizität von Nervenzellen auf
Weiterlesen

Bienen; Bildquelle: Christian Verhoeven (www.verhoevenfoto.de)

Fluoreszierendes Protein bringt Licht ins Bienengehirn

Ein internationales Team von Bienenforschenden unter Beteiligung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) hat einen Calcium-Sensor in eine Biene integriert
Weiterlesen

Tauben träumen im Schlaf; Bildquelle: RUB, Marquard

Hirnforschung: Träumen Tauben vom Fliegen?

Träumen galt lange Zeit als etwas, das den Schlaf des Menschen auszeichnet. Neue Erkenntnisse deuten jedoch darauf hin, dass Tauben im Schlaf möglicherweise Flugszenen erleben
Weiterlesen

Ruhr-Universität Bochum

Schlaue Vögel denken smart und sparsam

Die Gehirnzellen von Vögeln benötigen nur etwa ein Drittel der Energie, die Säugetiere aufwenden müssen, um ihr Gehirn zu versorgen
Weiterlesen

Deutsche Wildtier Stiftung

Arbeitsgedächtnis von Vogel- und Affengehirn

Das Arbeitsgedächtnis ist die Fähigkeit des Gehirns, Informationen für kurze Zeit in einem abrufbaren Zustand zu halten und zu verarbeiten
Weiterlesen

Ein Schnitt durch den Haiwirbel zeigt Wachstumsringe, ähnlich denen in Baumstämmen.; Bildquelle: Daniel Erny/Universitätsklinikum Freiburg

Gehirn des weltweit ältesten Wirbeltieres untersucht

Detaillierte Untersuchungen des ältesten Gehirns können neue Erkenntnisse für altersbedingte Krankheiten des Gehirns ermöglichen. Studie im Fachmagazin Acta Neuropathologica erschienen
Weiterlesen

Ruhr-Universität Bochum

Vogelhirne weisen eine überraschende Organisation auf

Manche Vögel können erstaunliche kognitive Leistungen vollbringen – dabei erscheint ihr Gehirn im Vergleich mit dem von Säugetieren ziemlich unorganisiert
Weiterlesen


Wissenschaft


Universitäten


Neuerscheinungen